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Lukas Rollwage und Mark Varrelmann, IfZ Göttingen
Mit freundlicher Unterstützung durch Helen Pfitzner, Verband der Hessisch-Pfälzischen Zuckerrübenanbauer e.V.
SBR wird durch das Proteobakterium Candidatus Arsenophonus phytopathogenicus (ARSEPH) und das Stolbur-Phytoplasma Ca. Phytoplasma solani (PHYPSO) ausgelöst. Es handelt sich dabei um Leitbündel besiedelnde Bakterien, die von der Schilf-Glasflügelzikade (Pentastiridius leporinus) übertragen werden. Sowohl im Fall einer Einzelinfektion als auch bei einer Doppelinfektion mit den jeweiligen Erregern ARSEPH bzw. PHYPSO wird bei der Zuckerrübe von SBR gesprochen.
Seit dem Auftreten der Rizomania in den 1970er Jahren stand der deutsche Zuckerrübenanbau vor keiner größeren phytopathologischen Herausforderung. Die Rede ist von einem Krankheitskomplex, besser bekannt als "Syndrome des basses richesses" (SBR), das „Syndrom der niedrigen Zuckergehalte“.
SBR wurde erstmals in den 1990er Jahren im französischen Burgund entdeckt. In 2009 wurde die Krankheit im Raum Heilbronn in Deutschland festgestellt, 2017 in der Schweiz. In Deutschland breitet sich das Insekt und damit auch die Krankheit seit Jahren kontinuierlich aus. Zwischen 2018 und 2024 kam es zu einem starken epidemischen Ausbruch der Krankheit vor allem in Hessen, Rheinland- Pfalz und Baden- Württemberg sowie in einzelnen Regionen in Bayern. Mittlerweile ist klar: Das Insekt kommt fast im ganzen Bundesgebiet vor. Inwieweit diese Tiere auch die gefährlichen Krankheitserreger in sich tragen ist noch nicht hinreichend untersucht.
Aktuell sind durch das verstärkte Auftreten ganze Anbauregionen betroffen und verringerte Erträge sowie Zuckergehalte um bis zu 60 Prozent beziehungsweise 30 Prozent sind keine Seltenheit. Im Jahr 2023 waren etwa 60.000 Hektar Zuckerrüben (16,5 Prozent der Gesamtanbaufläche) von SBR betroffen (BMEL). Zusätzlich wiesen etwa 15.000 Hektar Gummirüben auf, was mit deutlich verringerten Frischmasseerträgen einherging. Auch der Kartoffelanbau, mit einer betroffenen Fläche von rund 8.000 Hektar, blieb nicht verschont.
Die Lage der Anbauenden wird dadurch verstärkt, dass die Zikade immer weitere Kulturpflanzen als Wirtspflanze für sich entdeckt. Dies stellt vor allem solche Betriebe vor große Herausforderungen, die in ihrer Fruchtfolge mehrere Wirtspflanzen der Zikade anbauen. Es sind nicht nur die komplexe Biologie der Krankheit, die schnelle Ausbreitung des Vektors in der Fläche und auf andere Kulturen, sondern auch fehlende kurzfristige oder einfach umzusetzenden Lösungen in den betroffenen Betrieben.
Daher ist eine dringende und intensive Zusammenarbeit aller betroffenen Akteure von Landwirten, über den Handel, Verarbeitende Industrien und Verbänden erforderlich. Es müssen schnelle, praxistaugliche Strategien auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette ermöglicht werden. Dies begründet, dass eine Vielzahl von Stakeholdern in die Problemlösung mit integriert sind um die Forschung direkt mit der Praxis zu verbinden. Dazu gehören die bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft (LfL), das Institut für Zuckerrübenforschung (IfZ), das Julius Kühn-Institut (JKI), die TH- Bingen die Uni Hohenheim, Züchterunternehmen von Zuckerrüben und Kartoffeln, Verarbeitende Industrie, Offizialberatung, Bundespolitik sowie die der Länder und Verbände.
Durch ihre Saugtätigkeit an den Leitbündeln der Zuckerrüben während ihrer 2-3-monatigen Flugphase im Frühsommer und Sommer überträgt die Schilf-Glasflügelzikade die Erreger auf Pflanzen und legt ihre Eier in der Nähe des Rübenkörpers im Boden ab. Dort entwickeln sich die Larven, auch Nymphen genannt, und überdauern an nachfolgendem Wintergetreide. Im Folgejahr entwickeln sich aus diesen Nymphen erneut adulte Zikaden, die in Zuckerrüben und andere Kulturen einfliegen.
Die Schilf-Glasflügelzikade kann zwei Krankheitserreger in sich tragen. Zum einen ein Stolbur Phytoplasma (Candidatus Phytoplasma solani) sowie ein Proteobakterium (Candidatus Arsenophonus phytopathogenicus). Beide Krankheitserreger können durch die Saugaktivität des Insektes an die Wirtspflanze übertragen werden. Einen wichtigen Unterschied zwischen den Erregern gibt es; während das Stolbur Phytoplasma ausschließlich durch Saugaktivitäten von den Zikaden aufgenommen wird, so kann das Proteobakterium bereits über die Eier an die Nachkommen übertragen werden.
Monitoringaktivitäten der letzten Jahre zeigen, dass in Zuckerrübenschlägen zunächst eine Ausbreitung von ARSEPH in West-Ost-Richtung beobachtet werden konnte. Es wird vermutet, dass sich der Vektor dort zusätzlich mit PHYPSO beladen hat und sich sowohl in westliche als auch in nördliche Richtung weiter ausgebreitet hat. Neben Wintergetreide, Kartoffeln und Zuckerrüben stellen wahrscheinlich auch Unkräuter Überdauerungswirte für die Erreger dar. Aber auch die Nymphen selbst sind im Boden äußerst mobil und wandern während des Winters in tiefere, frostfreie Bodenschichten ein, sodass sie im darauffolgenden Jahr bereits mit Erregern des Vorjahres beladen als adulte Zikade ausfliegen und so zu einer frühen Infektion in den Rübenbeständen führen können.
Die Krankheitssymptome variieren in Abhängigkeit von den beteiligten Erregern und dem Zeitpunkt der Infektion, reichen aber ohne molekularen Nachweis nicht für eine eindeutige Differenzierung aus. Ein ARSEPH-Befall führt vor allem zu Vergilbung zwischen den Blattadern und im Neuaustrieb zu verkleinerten, lanzettförmigen und verdrehten Blättern. Der Rübenkörper weist Leitbündelnekrosen auf. Zuckergehalte sind bis zu 30 Prozent reduziert, nicht jedoch der Rübenertrag. Im Fall einer Doppelinfektion kommt es zusätzlich zum Absterben des Blattapparates und zur Ausbildung von "Gummirüben", die Lagerfäule-ähnliche Symptome aufweisen. Dabei wird der Ertrag um bis zu 60 Prozent reduziert. Weiterhin führt der Befall zu einer erheblichen Verschlechterung der Lagerfähigkeit und Verarbeitungsqualität in der Fabrik.
Seit einigen Jahren ist bekannt, dass insbesondere die Kartoffel, bei der die Infektion mit den entsprechenden Erregern als bakterielle Kartoffelknollen-Welke beschrieben wurde, neben der Rübe am stärksten betroffen ist. Auch an ihr kann die Zikade ihren Lebenszyklus vollständig vollziehen und beide Erreger übertragen. Die Symptome mit wirtschaftlicher Relevanz an den Kartoffelpflanzen sind vor allem viele kleine und weiche Knollen, Leitbündelverbräunungen, Nabelendnekrosen sowie erhöhte Zuckerwerte. Letztere führen vor allem in der weiterverarbeitenden Industrie zu Problemen.
Bereits lange vor Ausbreitung der bakteriellen Kartoffelknollen-Welke war die Einzelinfektion mit PHYPSO als Erreger von Stolbur an Kartoffeln bekannt. Allerdings war der beschriebene Hauptvektor des Phytoplasmas die Windenglasflügelzikade (Hyalesthes obsoletus), welche einen anderen Lebenszyklus als die Schilf-Glasflügelzikade aufweist. Im Unterschied zur Schilf-Glasflügelzikade vollzieht die Windenglasflügelzikade ihren Lebenszyklus nicht an der Kulturpflanze, sondern nutzt diese nur als „Nahrungspflanze“, was in einer anderen Epidemiologie resultiert. So kommt Stolbur, dass mit der Windenglasflügelzikade assoziiert ist in Wellen vor.
Seit 2024 ist bekannt, dass nicht nur Kartoffeln und Rüben zum Wirtspflanzenspektrum der Schilf-Glasflügelzikade oder ihren Pathogene gehören, sondern auch weitere Kulturen von ihr befallen werden können. Inwieweit bestimmte Nutzpflanzen sich als Wirtspflanze eignen, ist noch nicht hinreichend untersucht. Erste Auswertungen hierzu wurden von Lang et al. durchgeführt:
Auftreten von adulten Zikaden, Pathogenen und Nymphen an verschiedenen Kulturpflanzen (Lang et al. 2025).
Bedeutung im Lebenszyklus | Kulturen |
| Zuckerrübe, Kartoffel, Mangold, bestimmte Unkräuter |
| Zwiebel, Physalis, Paprika, Tomate, Rhabarber, Erdbeere, Sellerie |
| Weizen, Gerste, Ramtillkraut, bestimmte Unkräuter |
| Ölrettich, bestimmte Senfsorten, Sojabohnen |
Aktuell stehen keine leicht umzusetzenden Bekämpfungsmöglichkeiten gegen die Schilf-Glasflügelzikade zur Verfügung. Es sind Toleranzen gegenüber ARSEPH in verschiedenen Zuckerrüben-Sorten bekannt, diese bieten jedoch keine vollständige Resistenz. Gegenüber PHYPSO sind bisher keine Toleranz- oder Resistenzeigenschaften bekannt. Eine vollständige Verhinderung der Infektion mit den bakteriellen Erregern mittels chemischer Kontrolle des Vektors erscheint aufgrund der hohen Mobilität der adulten Zikaden nicht sehr plausibel. Insektizide könnten jedoch helfen, die Population zu reduzieren, um die weitere Ausbreitung zu verhindern. Momentan stehen jedoch keine Pflanzenschutzmittel mit einer Indikation gegen die Schilf-Glasflügelzikade zur Verfügung.
Bereits in den französischen Ursprungsgebieten der Krankheit wurde in einem Feldversuch festgestellt, dass ein Austausch von Winter- durch Sommergetreide die Populationsdichte des Vektors erheblich reduzierte. In einer gemeinschaftlichen Studie zwischen dem IfZ und dem Kuratorium für Versuchswesen und Beratung im Zuckerrübenanbau konnte gezeigt werden, dass der Ersatz des Wintergetreides durch Sommerungen wie Mais oder Schwarzbrache den Ausflug der Schilf-Glasflügelzikade erheblich reduzierte. Mittlerweile konnte dieser Zusammenhang in einer Modellregion 2022 in der Schweiz, sowie 2024 in mehreren Modellregionen in Süddeutschland sowie in anderen Projekten erfolgreich gezeigt werden, sodass in Folge einer Sommerung sowohl die Zikadenzahlen stark gesunken sind als auch Krankheitssymptome verringert und Erträge gesteigert werden konnten.
Aktuell wird angenommen, dass den Nymphen die Nahrungsgrundlage durch eine vegetationsfreie Zeit im Winter entzogen wird. Allerdings dürfte diese Maßnahme aufgrund der hohen Mobilität der Vektoren nur dann einen befallsmindernden Effekt erzielen, wenn großflächig auf den Anbau von Wintergetreide verzichtet wird. Zur langfristigen Wirksamkeit dieser Strategie können derzeit keine belastbaren Aussagen getroffen werden. Des Weiteren legen Versuchsergebnisse nahe, dass eine frühere Zuckerrübenernte in Kombination mit einer Bodenbearbeitung die Nymphenanzahl im Boden reduziert, dazu fehlen aber weitere umfangreichere Feldversuche. Sicher ist jedoch, dass durch eine verfrühte Ernte qualitativ hochwertigere Zuckerrüben in die Fabrik gefahren werden können. Ertragszuwächse im Spätsommer sind in SBR- Befallsgebieten nicht mehr zu erwarten.
Weitere mögliche Bekämpfungsstrategien:
Priming
Push-pull-Technologien
Stärkung der Pflanzengesundheit (Biostimulanzien)
Beizung in Folgekulturen
Bodenbearbeitung
Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf RNAi-Basis
Ohne die Entwicklung effektiver Methoden zur Vektorbekämpfung oder den Einsatz von resistenten oder toleranten Zuckerrüben steht die Ertragssicherheit des Zuckerrübenanbaus in befallenen Gebieten erheblich infrage. Da das Zusammenspiel von Wirtspflanze, Vektor und Pathogen ein relativ neuer und bislang wenig erforschter Krankheitskomplex ist, werden widerstandsfähige Sorten und innovative Bekämpfungsansätze frühestens mittelfristig zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund wird von verschiedenen Institutionen und Arbeitsgruppen intensiv daran gearbeitet, neue Kontrollmöglichkeiten zu identifizieren und weiterzuentwickeln.
Vor einigen Jahren richtete die Abteilung Agrarentomologie der Universität Göttingen gemeinsam mit dem IfZ eine Zucht der Schilf-Glasflügelzikade an Zuckerrüben unter kontrollierten Bedingungen ein. Diese Zucht ermöglicht es den Wissenschaftlern, das ganze Jahr über Gewächshausversuche durchzuführen.
Da bislang keine Resistenz- oder Toleranzfaktoren bekannt sind, werden in sogenannten Transkriptomstudien in Zusammenarbeit mit Züchtungsunternehmen Gene identifiziert, die durch die Erreger dereguliert werden. Diese könnten sowohl als Züchtungsmarker dienen als auch Anfälligkeitsfaktoren beschreiben. Hierfür müssen Vektor-vermittelte Infektionen gezielt durchgeführt werden. Um bereits kurz nach der Inokulation deregulierte Gene zu erkennen.
Des Weiteren werden Biotests gezielt im Selektionsprozess für tolerante beziehungsweise resistente Sorten eingesetzt. Im Rahmen eines Kooperationsprojekts zwischen dem Züchtungsunternehmen SESVanderHave und dem IfZ sollte sowohl im Gewächshaus als auch bei gezielten Inokulations- und Vektorausschlusstests im Feld der Selektionsprozess für Toleranzeigenschaften verbessert werden. Auch wird der Biotest im Rahmen eines EU-geförderten Projekts genutzt, um Beta-Spezies zu evaluieren, die mit Zuckerrüben kreuzbar sind.
Weitere Projekte am IfZ:
Testung insektizider Mittel gegen die Schilf-Glasflügelzikade
Erprobung landwirtschaftlicher Verfahren mit Schwerpunkten auf Fruchtfolge, Bodenbearbeitung und Wirtspflanzen
Entwicklung biologischer Bekämpfungsmethoden
Digitale Phänotypisierung und die Analyse von Wirt-Pathogen-Interaktionen mithilfe hyperspektraler Sensoren
Es wird auch von vielen weiteren Akteuren mit Hochdruck an zahlreichen SBR-bezogenen Fragestellungen und unterschiedlichsten Lösungsansätzen gearbeitet, um die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung wirksamer Kontrollstrategien zu erhöhen. Letztendlich wird jedoch nur die Kombination mehrerer Maßnahmen zu einer erfolgreichen Bekämpfung der Krankheit führen. Aktuell werden die folgenden Projekte vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) über die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) als Projektträger gefördert: